Angeblicher Organhandel in Mariupol
Angeblicher Organhandel in Mariupol
In der EU-Charta zur Würde des Menschen ist das Recht auf Unversehrtheit wie folgt festgehalten: «Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Im Rahmen der Medizin und der Biologie muss insbesondere Folgendes beachtet werden: […] das Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen.» Organhandel ist illegal, im Jahr 2008 wurde dafür die Istanbuler Konvention verabschiedet. Damit soll gegen illegale Praktiken in der Organbeschaffung sowie gegen Transplantationstourismus vorgegangen werden – Konsequenzen des weltweiten Mangels an Spenderorganen. Die Staaten werden angehalten, gesetzliche und medizinische Rahmenbedingungen zur Regulierung der Organspenden und Transplantationen zu schaffen. Von Organhandel betroffen sind insbesondere Menschen in Not oder Armut. Die Empfänger kommen dabei besonders häufig aus wohlhabenden Ländern. Im Jahr 2015 kam es zum ersten internationalen Vertrag zur Bekämpfung des Organhandels. Die Schweiz unterstützt das Vorhaben und hat im Jahr 2020 die Organhandelskonvektion ratifiziert. Diese ist seit Anfang 2021 in Kraft. Dabei wird festgehalten, dass «der Handel mit menschlichen Organen die Menschenwürde und das Recht auf Leben verletzt». Mit der Organhandelskonvention wurde auch das hiesige Transplantationsgesetz und des Humanforschungsgesetz angepasst. Auch das Strafrechtsystem wurde angepasst, um «verantwortliche Einzeltäter und kriminelle Organisationen wirksamer» verfolgen zu können.
Ausgerechnet das Internationale Komitee des Roten Kreuzes soll in der Ukraine Kinder mit «gesunden Organen» katalogisiert haben. Angeblich haben russische Ermittler in der hart umkämpften Hafenstadt Mariupol eine entsprechende Auflistung im Büro der Hilfsorganisation gefunden.
Der Vorwurf ist nicht haltbar. Das Rote Kreuz dementiert, Organhandel zu betreiben. Dem Video, auf dem die Behauptung basiert, sind keine konkreten Beweise zu entnehmen. Krankenakten von ukrainischen Kindern sind nicht zu erkennen.
Das Video, welches gar keine Beweise liefert
Der bei Facebook geteilte Artikel basiert auf einem auf Telegram verbreitetem Video. Nachdem die ukrainische Hafenstadt Mariupol von russischen Truppen eingenommen wurde, sei das dortige Büro des Roten Kreuzes (IKRK) untersucht worden, heisst es darin.
Die NGO ist seit 2014 in der Ukraine tätig und unterhielt ein Regionalbüro in Mariupol. In dem Telegram-Post werden die dortigen Aktivitäten in Frage gestellt. So seien angeblich Krankenakten von Kindern gefunden worden, welche deren Organe dokumentierten.
Weiter seien Anweisungen zum Gebrauch von Waffen gefunden worden sowie Berichte über Brutkästen, die in Laboren für mikrobiologische Kulturen eingesetzt worden seien. Der User schreibt dazu, dass die Dokumente zur Untersuchung den Behörden der Volksrepublik Donezk (DNR) übergeben worden seien.
In dem beigefügten Video durchsuchen Männer chaotische Büroräume und unterhalten sich dabei auf Russisch. Die meisten Szenen sind unscharf, die Gespräche sind teilweise nicht verständlich. Es ist zwar die Rede von Krankenakten mit Daten von Kindern, Organe werden dabei jedoch nicht erwähnt. Zum Zeitpunkt dieser Diskussion ist nichts zu sehen, was einen Beweis für die Existenz der angeblichen Listen liefern würde.
Das Rotes Kreuz dementiert sämtliche Vorwürfe
Die unbelegten Behauptungen wurden dennoch umgehend von verschiedenen Internetportalen aufgegriffen, so auch in der Schweiz. In dem Artikel steht, dass das IKRK keine Stellung zu den Vorwürfen nehmen möchte (Stand: 01.07.2022).
Das ist falsch, das IKRK verbreitete am 31. Mai 2022, einen Tag nach der Veröffentlichung des RT-Artikels, eine Stellungnahme und dementierte sämtliche Anschuldigungen. Den Vorwurf, am Organhandel beteiligt zu sein, weist die NGO zurück und beteuert, weder über Krankenakten von Kindern zu verfügen noch jemals derartige Aufzeichnungen gesammelt zu haben.
Das im Video zu sehenden Informationsmaterial über Waffen ist öffentlich zugänglich. IKRK-Mitarbeiter klären damit Zivilisten über gefährliche und explosive Gegenstände auf.
Ab Minute 2:15 wird im Video über Inkubatoren gesprochen. Auch dazu nimmt das Rote Kreuz Stellung: In Absprache mit den Behörden seien Brutkästen an die Zivilbevölkerung verteilt worden, um Familien bei der Geflügelaufzucht zu unterstützen. Derartige Hilfsprogramme seien nicht unüblich in bewaffneten Konflikten wie im Donbass.
Der kanadische Geheimdienst warnte bereits Anfang April vor russischen Desinformationen über vermeintlichen Organhandel.
Vorgehen der Schweiz gegen den Mangel an Spenderorgane
Auch die Schweiz ist vom Mangel an Spenderorgane betroffen. Die mediane Wartezeit für eine Spenderniere beträgt knapp drei Jahre. Die Statistik von Swisstransplant zählte Ende 2021 über 1'400 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan und über 70 Menschen auf der Warteliste sind verstorben.
Um dem Mangel an Spenderorgane wirkungsvoll zu begegnen, wird das Transplantationsgesetz laufend revidiert. Am 15. Mai 2022 hiess die Schweizer Stimmbevölkerung die Widerspruchslösung gut. Wer nach seinem Tod keine Organe spenden möchte, muss dies künftig explizit angeben. Ohne Widerspruch dürfen nach Absprache und mit der Zustimmung der Angehörigen dem Verstorbenen Organe für Transplantationen entnommen werden. Die Regelung tritt frühestens im Jahr 2024 in Kraft.
Telegram-Post (archiviert) (Video archiviert)
Swissinfo: Fall von Mariupol, 21.4.2022 (archiviert)
IKRK: Statement des Roten Kreuzes zur Falschbehauptung, 31.5.2022 (archiviert)
IKRK: Ukrainisches Rotes Kreuz (archiviert)
IKRK: Vertretungen in der Ukraine, 14.8.2014 (archiviert)
IKRK: Broschüre über Kontamination durch Waffen (archiviert)
RT: Artikel mit Falschbehauptung, 30.5.2022 (archiviert)
News Punch: Artikel mit Falschbehauptung, 31.5.2022 (archiviert)
Uncut News: Artikel mit Falschbehauptung, 31.5.2022 (archiviert)
Telegra.ph: Artikel mit Falschbehauptung, 1.6.2022 (archiviert)
Kanadischer Geheimdienst: Tweet mit Warnung zur russischen Desinformation, 1.4.2022 (archiviert)
Istanbuler Konvektion: Erklärung von Istanbul zu Organhandel und Transplantationstourismus, 2008 (archiviert)
UNO: Report über Menschenhandel, 2018 (archiviert)
Europa Parlament: Studie über Organhandel, 2015 (archiviert)
Europarat: Medienmitteilung über die Konvention gegen den Handel mit menschlichen Orangen, 25.03.2015 (archiviert)
Europarat: Übereinkommen gegen den Handel mit menschlichen Organen. 25.03.2015 (archiviert)
EU-Charta: Würde des Menschen (archiviert)
BAG: Schweizer Engagement gegen Organhandel (archiviert)
BAG: Faktenblatt Organspendenzahlen Schweiz, April 2022 (archiviert)
BAG: Revisionen des Transplantationsgesetzes (archiviert)
BAG: Das Volk sagt Ja zur Widerspruchslösung, 16.05.2022 (archiviert)
Bundesrecht: Übereinkommen des Europarats gegen den Handel mit menschlichen Organen, Stand 01.02.2021 (archiviert)
Bundesrecht: Transplantationsgesetz, Stand 01.02.2021 (archiviert)
Bundesrecht: Humanforschungsgesetz, Stand 26.05.2021 (archiviert)
Swisstransplant: Warteliste, Stand Ende 2021 (archiviert)
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