20.07.2022 | Faktencheck

Eine Minderheit verzerrt Fakten

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spielte bei der Bewältigung der Covid-Pandemie eine zentrale Rolle. Dabei zeigten sich aber auch Mängel der Organisation und des globalen Gesundheitssystems, die WHO stand mehrfach in harter Kritik. Wie wird die Weltgemeinschaft auf künftige Gesundheitskrisen reagieren? Darüber lancierte die WHO eine Debatte mit ihren Mitgliedern unter Einbezug der Öffentlichkeit. 


Die offizielle Schweiz steht hinter der WHO: Tedros Adhanom Ghebreyesus, links, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), und der Schweizer Innenminister Alain Berset, rechts, nach der Enthüllung des monumentalen Kunstwerks mit dem Titel «Früchte tragen» am 22. Mai 2022 in Genf. Die Schweiz hat das Kunstwerk der Schweizer Künstlerin Simone Holliger der WHO anlässlich der 75. Weltgesundheitsversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Zeichen des Engagements für ihr Mandat geschenkt.  Foto: Keystone-SDA / Salvatore Di Nolfi
Die offizielle Schweiz steht hinter der WHO: Tedros Adhanom Ghebreyesus, links, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), und der Schweizer Innenminister Alain Berset, rechts, nach der Enthüllung des monumentalen Kunstwerks mit dem Titel «Früchte tragen» am 22. Mai 2022 in Genf. Die Schweiz hat das Kunstwerk der Schweizer Künstlerin Simone Holliger der WHO anlässlich der 75. Weltgesundheitsversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Zeichen des Engagements für ihr Mandat geschenkt. Foto: Keystone-SDA / Salvatore Di Nolfi
Behauptung

«Austritt der Schweiz aus der WHO», wird auf Facebook ein Artikel kommentiert. Darin steht, dass eine Bürgerrechtsbewegung den Austritt der Schweiz aus der WHO anstrebe. Was ist dabei dran?

Beurteilung

Die Bürgerbewegung «Mass-Voll» hat eine Petition mit der Forderung lanciert, dass die Schweiz die neuen Gesundheitsrichtlinien der WHO für eine verbesserte Pandemieprävention ablehnen soll. Ein Austritt aus der Organisation sei derzeit nicht geplant, könne aber als letztes Mittel - im Falle eines Angriffes auf die verfassungsmässigen Grundrechte in der Schweiz - allenfalls notwendig werden, lässt die Bewegung verlauten. 

Sachlage

Die Schweiz ist Mitgliedstaat der WHO. Es lassen sich weder offizielle Statements der Schweizer Behörden noch Medienbericht finden, wonach die Schweiz darüber nachdenkt aus der WHO auszutreten.


Die Gründungsverfassung der WHO sieht zwar keinen Austritt ihrer Mitglieder vor. Die Vereinten Nationen regelten jedoch später, wie Länder aus multilateralen Organisationen austreten können. Die Kündigungsfrist für einen WHO-Austritt beträgt 12 Monate, wobei sämtliche ausstehende Gelder zu bezahlen sind. Bewilligte Fördergelder sowie im Voraus zugesagte freiwillige Beiträge können bei einer Kündigung nicht zurückgezogen werden.


Petition gegen neue Gesundheitsrichtlinien


Die lancierte Petition lehnt die neuen WHO-Gesundheitsrichtlinien für eine verbesserte Pandemieprävention kategorisch ab. Die Gruppierung befürchtet, dass durch die diese neuen Richtlinien die Souveränität der Schweiz unterwandert werde. In kurzer Zeit seien über 20’000 Unterschriften eigengegangen, schreibt Nicolas Rimoldi von der Bürgerbewegung auf Anfrage von Keystone-SDA. Aufgrund dieses Erfolges arbeite der Verein nun an einer Initiative.


Auf ihrer Webseite schreibt die Bürgerbewegung zwar, dass die Initiative den Austritt aus der WHO befürworte. Ihr Sprecher relativiert die Aussage gegenüber Keystone-SDA jedoch dahingehend, dass ein Austritt erst dann gefordert würde, «wenn die Schweiz zuvor alle Möglichkeiten erfolglos ausschöpfte, einen Angriff auf [die] verfassungsmässigen Grundrechte abzuwehren.» Ähnlich ist es auch in einem offenem Brief formuliert: «Sollten Sie die Unabhängigkeit der Schweiz und die Freiheit des Schweizer Volkes nicht verteidigen, werden wir übernehmen müssen und den Austritt aus der WHO mittels einer eidgenössischen Volksinitiative fordern.»


Damit eine Initiative zustande kommt, müssen die Initianten innerhalb von 18 Monaten 100'000 Unterschriften von Schweizer Stimmberechtigten sammeln. Ganz gleich, wie Initiativen resultieren, damit werden die Themen öffentlich diskutiert und beeinflussen die künftige Gesetzgebung. Bundesrat und Parlament können auch einen Gegenvorschlag machen, welche die Anliegen der Initiativen aufnimmt. 


WHO will Massnahmen gegen Pandemien stärken


Anlass für die Petition ist die Bestrebung der WHO, die Zusammenarbeit bei der Erkennung, Vorsorge und Reaktion auf eine Pandemie zu verbessern. Daraus soll ein globales Instrument zur Stärkung der Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion resultieren. Die rechtliche Form dieses internationalen Instruments ist noch nicht bekannt.


Die Pandemie hat Mängel in der Umsetzung der Internationalen Gesundheitsvorschriften offengelegt. Daher beschlossen Ende 2021 die Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation, ein globales Instrument zur Stärkung der Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion auszuhandeln. Ein Zwischenstaatliches Verhandlungsgremium wurde dafür geschaffen, dessen Ergebnisse sollen im Jahr 2024 der Weltgesundheitsversammlung vorgelegt werden. Die Öffentlichkeit wird bei der Erarbeitung dieses globalen Instrumentes mit einbezogen. Die Schweizer Behörden unterstützten dieses Vorhaben und sprechen sich für ein globales Instrument zur Verbesserung der Pandemieprävention aus.


Beteuerung der WHO: Kein Angriff auf die nationale Souveränität


Der Generaldirektor der WHO bedauert, dass eine Minderheit Fakten verzerre. Mit dem vorgeschlagenen Abkommen zur verbesserten Pandemievorbereitung beabsichtige die WHO, die Staaten in der gemeinsamen Bekämpfung von Krankheiten zu stärken. Es wird erwartet, dass mit dem Abkommen die Freiheit der Individuen bei künftigen Seuchenausbrüche besser als bislang sichergestellt wird: Die Reisefreiheit, der Besuch der Arbeitsstelle sowie der Besuch einer Bildungseinrichtung soll somit auch während Gesundheitskrisen möglich sein.


Mehrfach betonte Tedros Adhanom Ghebreyesus, dass die Souveränität jedes Mitgliedstaates dabei gewährleistet bleibe. Der Verhandlungsprozess sei eine Diskussion zwischen den Mitgliedstaaten selbst, welche auch das Aussehen des finalen Instrumentes bestimmen. Jeder Staat entscheidet dann eigenständig, ob er das Instrument unterzeichnen möchte.


Dies bestätigte auch Judith Wyttenbach von der Universität Bern gegenüber Keystone-SDA für einen früheren Faktencheck. Als souveräner Staat kann die Schweiz selbst entscheiden, welche neuen völkerrechtlichen Verpflichtungen sie übernehmen und ratifizieren will. «Die Schweiz ist Mitglied der WHO und nimmt an der Aushandlung neuer Instrumente teil. Dort kann sie sich gestaltend einbringen. Ist der neue Vertrag ausgehandelt und verabschiedet, kann die Schweiz einen Vertragsbeitritt prüfen», schrieb die Professorin vom Institut für öffentliches Recht. 


Liegt ein völkerrechtlicher Vertrag zur Ratifizierung bereit, hat das Schweizer Stimmvolk die Möglichkeit, das Referendum zu ergreifen. «In der Praxis ratifiziert der Bundesrat den Vertrag in den Tagen, Wochen oder Monaten, nach dem parlamentarischen Genehmigungsbeschluss und nach Ablauf einer allfälligen, unbenutzten Referendumsfrist oder dem positiven Ausgang der Volksabstimmung», beschreibt die Broschüre Praxisleitfaden für völkerrechtliche Verträge unter anderem die Ratifikation.  
 

Quellen

Facebook-Post (archiviert)


WHO: Länderprofil Schweiz (archiviert)


WHO: Liste der Mitgliedstaaten (archiviert)


WHO: Zustimmung der Weltgesundheitsversammlung für ein globales Instrument für eine verbesserte Pandemieprävention, 01.12.2021 (archiviert)


WHO: FAQ zum globalen Instrument für eine verbesserte Pandemieprävention, 20.05.2022 (archiviert)


WHO: Gründung des zwischenstaatlichen Verhandlungsgremiums zur Aushandlung eines globalen Instruments für eine verbesserte Pandemieprävention, 01.12.2021 (archiviert)


WHO: Zwischenstaatliches Verhandlungsgremium (archiviert)


WHO: Programm des zwischenstaatlichen Verhandlungsgremiums (archiviert)


WHO: Eröffnungsrede beim Public Hearing zu einem neuen internationalen Instrument zur verbesserten Pandemieprävention, 12.04.2022 (archiviert)


WHO: Eröffnungsrede beim Covid-19-Medienbriefing, 17.05.2022 (archiviert)


WHO: Eröffnungsrede beim Kongressprogramm des Aspen Institute, 01.06.2022 (archiviert)


WHO: US-Austritt aus der WHO wird in die Wege geleitet, 08.07.2020 (archiviert)


Schweizer Behörde: Tweet von Alain Berset zur Unterstützung der WHO, 29.11.2021 (archiviert)


Bundeskanzlei: Bund kurz erklärt, Stand 2022 (archiviert)


EDA: Praxisleitfaden völkerrechtliche Verträge, Ausgabe 2015 (archiviert)


Mass-Voll: Petition «Stopp der WHO-Machtergreifung» (archiviert)


Mass-Voll: Brief an die Schweizer Behörden, 13.05.2022 (archiviert)


Mass-Voll: Souveränitätsinitiative (archiviert)


Faktencheck Keystone-SDA (archiviert)


Rubikon: Artikel über das geplante Vorhaben, 16.06.2022 (archiviert)


Nature: Austritt aus der WHO, 23.06.2020 (archiviert)

 

 

 

 


Kontakt Faktencheck-Team: factchecking@keystone-sda.ch