28.06.2022 | Wissenschaft

Der Tunnel, in dem die Geheimnisse der Existenz gelüftet werden

In einem 27 Kilometer langen Ringtunnel in etwa 100 Meter Tiefe im Grenzgebiet der Schweiz und Frankreichs erforschen Teilchenjägerinnen und -jäger, was die Welt im Innersten zusammenhält. So riesig die Anlage ist, so winzig sind die Teilchen, die das Geheiminis lüften sollen.


Foto: KEYSTONE / Martin Rütschi
Foto: KEYSTONE / Martin Rütschi

 


Die kühne Idee eines Teilchenbeschleunigers in einem unterirdischen Ring erwuchs in den späten 1970er-Jahren, als Physiker aus den Mitgliedsstaaten des Cern über die langfristige Zukunft der Hochenergiephysik in Europa diskutierten. Der Large Electron-Positron Collider (LEP) sollte der Teilchenbeschleuniger sein, um die grundlegenden Prozesse im Universum künftig zu studieren. In der gigantischen Maschine sollten Elektronen und ihre Gegenstücke aus Antimaterie, Positronen, mit nahezu Lichtgeschwindigkeit in einem 27 Kilometer langen unterirdischen Ring aufeinanderprallen. 

Nur selten habe es so viel Konsens unter europäischen Wissenschaftlern zu einem Forschungsinstrument gegeben, stellte der Cern-Rat damals fest. Somit wurde der Bau des Beschleunigers am 22. Mai 1981 förmlich genehmigt.

Sieben Jahre später war es soweit: Die beiden Enden des Ringtunnels kamen mit einem Fehler von nur einem Zentimeter zusammen. Zur Einweihungsfeier des 1,3 Milliarden Franken-Projekts waren unter schärfsten Sicherheitsmassnahmen «illustre Gäste» geladen, wie die SDA damals berichtete. Zu ihnen zählten unter anderen der schwedische König Carl Gustaf, Prinzessin Margriet von den Niederlanden und der Erbprinz von Norwegen.

«Supermaschine des 21. Jahrhunderts»

Der LEP trug wesentlich zur Etablierung des Standardmodells der Teilchenphysik bei, der bislang besten wissenschaftlichen Theorie zur Beschreibung des Universums. Beispielsweise wurden die zuvor theoretisch vorhergesagten Elementarteilchen, das W- und Z-Boson, experimentell nachgewiesen.

Nach 11 Jahren ging die Ära des LEP zu Ende. Doch verlassen blieb der Tunnel nicht zurück: An die Stelle von LEP trat der Large Hadron Collider (LHC). Der grösste und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt wurde 2008 in Betrieb genommen – die "Supermaschine des 21. Jahrhunderts». Darin kreisen zwei Protonenstrahlen in entgegengesetzte Richtung – wenn sie kollidieren, werden Zustände wie unmittelbar nach dem Urknall erreicht. So gelang beispielsweise vor zehn Jahren die aufsehenerregende Entdeckung eines neuen Elementarteilchens, des Higgs-Bosons. 

Ende April dieses Jahres startete der LHC nach einer dreijährigen Wartungs- und Modernisierungspause wieder auf. Dank noch höheren Energien versprechen sich Physikerinnen und Physiker noch tiefere Einsichten in das, was die Welt zusammenhält. Sie möchten nicht nur dem Higgs-Boson genauer auf den Zahn fühlen, sondern auch das Standardmodell der Teilchenphysik den bisher strengsten Tests unterziehen und sich auf die Suche nach physikalischen Phänomenen jenseits des Standardmodells begeben. 


Autorin: Stephanie Schnydrig, Wissenschaftsredaktorin der Keystone-SDA