null

null Fortschritte der Neurotechnologie werfen ethische Fragen auf

07.10.2021 | GESDA Summit 2021

Fortschritte der Neurotechnologie werfen ethische Fragen auf

Mit neurotechnologischen Methoden lassen sich Gedanken einst womöglich lesen, steuern und manipulieren. Braucht es deshalb neue Menschenrechte? Forschende sind sich uneins. 


 
 

288944935 - David Mark Rose vom britischen Team Brain Stormers tritt am 8. Oktober 2016 beim Brain-Computer Interface Race (BCI) während des ersten Cybathlon in Zürich an. Foto: KEYSTONE/ Alexandra Wey
288944935 - David Mark Rose vom britischen Team Brain Stormers tritt am 8. Oktober 2016 beim Brain-Computer Interface Race (BCI) während des ersten Cybathlon in Zürich an. Foto: KEYSTONE/ Alexandra Wey



Roboter und Computer mit Gedanken steuern: Das ist die Vision von drahtlosen Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer-Interfaces, BCIs). Invasive BCIs sind kleine, im Gehirn implantierte Geräte, die mit Elektroden Hirnströme aufzeichnen und in Steuersignale umwandeln. Bei nicht-invasiven Methoden werden Elektroden aussen auf die Kopfhaut gelegt. So gelingt es Querschnittsgelähmten schon heute beispielsweise, mithilfe von Hirnimplantaten Roboterglieder zu steuern oder mit der Macht der Gedanken zu schreiben. 

Und in den nächsten Jahrzehnten wird dieses Feld in neue Sphären dringen, so zumindest die Einschätzung führender Expertinnen und Experten. BCIs werden demnach die Behandlung neurodegenerativer und psychiatrischer Erkrankungen verändern, aber auch die Gehirnfunktion gesunder Menschen verbessern.


Vorschläge für neue Menschenrechte

Der Zugang zu Informationen aus dem menschlichen Gehirn und dessen Manipulation wirft aber auch tiefgreifende ethische Fragen auf: Wem gehören diese Daten, was darf damit gemacht werden und wie lässt sich die Schaffung einer «kognitiven Elite» verhindern?

Aus Sicht des Ethikers Marcello Ienca von der ETH Zürich reichen die bestehenden Menschenrechte nicht aus, um unbeabsichtigte Folgen der Neurotechnologie zu verhindern. Bereits 2017 schlug er mit seinem Kollegen Roberto Andorno von der Universität Zürich vor, die bestehenden Menschenrechte um vier weitere zu ergänzen : Das Recht auf kognitive Freiheit, das Recht auf geistige Privatsphäre, das Recht auf geistige Integrität und das Recht auf psychologische Kontinuität. «Der erste Gedanke zur Notwendigkeit neuer Menschenrechte entwickelte sich bei uns erstmals während einer Zugreise von Basel nach Zürich», erzählte Ienca im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Ethikforschende hätten der Möglichkeit, Gedanken zu lesen und zu beeinflussen, bis dahin viel zu wenig Beachtung geschenkt.


Nicht überregulieren und überkriminalisieren

Die Schaffung neuer Menschenrechte sieht die Neurowissenschaftlerin und Neuroethikerin, Judy Illes von der kanadischen University of British Columbia, kritisch: Es lenke von den wichtigeren Zielen im Gesundheitswesen ab. «Meine Einschätzung ist, dass wir mit den künftigen Herausforderungen der Neurotechnologie im Rahmen der derzeitigen Menschenrechte umgehen können», sagte sie im Zoom-Gespräch. Andernfalls bestehe das Risiko, Innovationen zu überregulieren und überkriminalisieren. Sie plädiert stattdessen für eine enge Zusammenarbeit von Ethikerinnen und innovativen Unternehmern, um Selbstverwaltung und Transparenz zu fördern.

«Wir sollten unseren Fokus vor allem auf die medizinischen Möglichkeiten legen, die die Neurotechnologie birgt», sagt sie und meint damit die Behandlung von schweren Depressionen, zwanghaften Störungen und altersbedingten Krankheiten wie Alzheimer. Und: «Insbesondere müssen wir sicherstellen, dass diese Behandlungen für alle Menschen zugänglich sein werden, unabhängig ihres Wohnorts, ihres sozio-ökonomischen Status und ihrer Kultur.»
 

223959775 – Gehirnimplantat, mit dem Tetraplegiker einen Roboterarm steuern können. Das Implantat ist Teil der gemeinsamen Forschung von CEA Leti, dem Universitätsklinikum Grenoble und der Universität Joseph Fourier im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen. Fotografiert im Forschungsinstitut CEA Leti. Foto: KEYSTONE/ Science Photo Library/ Dung Vo Trung/ Look at Science
223959775 – Gehirnimplantat, mit dem Tetraplegiker einen Roboterarm steuern können. Das Implantat ist Teil der gemeinsamen Forschung von CEA Leti, dem Universitätsklinikum Grenoble und der Universität Joseph Fourier im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen. Fotografiert im Forschungsinstitut CEA Leti. Foto: KEYSTONE/ Science Photo Library/ Dung Vo Trung/ Look at Science


 

Eine kognitive Elite?

Derzeit lassen sich mit BCIs die kognitive Fähigkeit von gesunden Menschen noch nicht soweit verbessern, dass es einen Vorteil mit sich bringen würde. Aber: «Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass das nicht bald der Fall sein wird», sagte Ienca. Die damit einhergehende Gefahr sei, dass dies reichen Menschen vorbehalten bleibe und somit eine kognitive Elite geschaffen werde. «Deshalb müssen die Kosten tief sein und es braucht staatliche Subventionen, um allen Menschen den Zugang zu dieser neuen Technologie zu gewährleisten.»

Natürlich lasse sich darüber streiten, ob Menschen überhaupt mit Technologien ihre Gehirnleistungen verbessern sollten, so Ienca. Aber es sei ein grosses Risiko, Wissenschaft aufzuhalten und neue Technologien zu verbieten. «Denn damit verhindert man auch Positives», sagte Ienca.

Am Freitag, 8. Oktober werden Marcello Ienca, Judy Iles, der EPFL-Forscher Olaf Blanke und Lidia Brito, Direktorin des Unesco-Regionalbüros für Lateinamerika und die Karibik für Wissenschaft, anlässlich des Gesda-Gipfels in Genf miteinander über die BCI-Technologie und deren Auswirkungen diskutieren. 



___


Expertinnen und Experten weltweit aus rund zwanzig Fachgebieten haben wissenschaftliche Durchbrüche identifiziert, die in den nächsten 5, 10 und 25 Jahren zu erwarten sind.  Diese Fortschritte werfen allerdings ethische Fragen auf und bergen die Gefahr, dass nicht alle Länder und Menschen gleichermassen Zugang zu diesen neuen Technologien erhalten werden. In Genf versammeln sich Wissenschaftlerinnen, Diplomaten und leitende Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, um diese Herausforderungen etwa bezüglich BMIs, Quantencomputer, Bergbau im Weltall oder Gentherapien zu diskutieren.

___



Stephanie Schnydrig, Redaktorin Ressort Wissenschaft der Keystone-SDA (Autorin)